75 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz

Offener Brief von Esther Bejarano

Esther Bejarano, Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e. V., wandte sich am Sonntag in einem offenen Brief anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers an den Bundespräsidenten, die Bundeskanzlerin und an »alle, die wollen, dass Auschwitz nie wieder sei«:

„Wo stehen wir – dieses Land, diese
Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch
die Rote Armee?

Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Alpträume in den Nächten. Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht, das mörderische NS-Unrecht, so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Naziverbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell: Die Nazis waren gar nicht weg. Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sie verantwortlich für Hunger, Not und Tod? Dann brach die Eiszeit an, der Kalte Krieg, der Antikommunismus. Es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern hin zur Fernsehserie »Holocaust« ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung des NS-Unrechts. Aber auch die Rechten, die Alt- und Neonazis und Auschwitz-Leugner formierten sich. Inzwischen wird vom Erinnern und Gedenken als einer Gedenkkultur gesprochen. Wir spüren, wie tief viele Menschen bewegt sind, manche haben sich das »Nie wieder« zur Lebensaufgabe gemacht. Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen aber nicht. (…) Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden. Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden! Ich will, dass ein lautes »Nein« gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. (…)

Der 8. Mai ist auch Titelthema des aktuellen ZEIT-ZEUGEn der VVN-BdA Lübeck/Herzogtum Lauenburg.
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